Europa Eiswetter von Sebastian Jung

Europa
Eiswetter


deutsch | english

Texte und Zeichnungen
von Sebastian Jung

Herausgegeben vom
NS-Dokumentationszentrum München


im Rahmen der Ausstellung
Tell me about yesterday tomorrow

und der
digitalen Assembly
History is not the Past

Einatmen.
Ausatmen.

Ich sitze auf einer Insel
unter Palmen am Strand.

Das Meer ist türkis.
Der Himmel ist blau.

Einatmen.
Ausatmen.

Ein Asteroid taucht auf
und rast auf mich zu.

Der Sand rieselt
zwischen meinen Zehen hindurch.

Einatmen.
Ausatmen.

Die Blätter der Palmen
rascheln im Wind.

Es klingelt.
Der Postbote.

Acht Rollen Klopapier.
200 Blatt je Rolle.
Vier Blatt für eine Toilettengang.
Zwei Toilettengänge pro Tag.

Ich habe noch 200 Tage zu leben.
Meiner Raufasertapete kommen die Tränen.

Eine Fliege fliegt Schlangenlinien
unter meiner Zimmerdecke;
scheint SOS in die Luft zu schreiben.

Die Kanzlerin
spricht:

Bleibt
zuhause.

Das Volk
schreit:

Frühlingsanfang.

So seid
doch vernünftig.

Die Grenzen
werden geschlossen.

Zwei Kugeln
Eis, bitte.

Schoko.
Vanille.

Deutschland schneidet
sich den kleinen Finger ab,
und wirft ihn
in die Mitte des Raumes,
während es sachte
rückwärts gehend
seinen Arsch an die Wand schiebt
und Beethovens Neunte summt.

In den Nachrichten kämpfen
Flüchtlinge mit Spargelfeldern
um Aufmerksamkeit.

Meine Lieblingsband
macht Werbung
für Pornhub und fürs Wichsen,
hält kurz ein T-Shirt
für Seenotrettung in die Kamera,
singt dann wieder von sich,
und ihrem kommenden Album.

Die Band heißt nicht Blondie.
Das Lied nicht Maria.

Die Ärzte werden uns vielleicht
mit der Pandemie helfen können.
Aber mit den ökonomischen Bedingungen?

Moria,
You’ve gotta see her.

Ein verzottelter Mann
steht am Seiteneingang
des Hauptbahnhofes,
bückt sich verhalten,
hebt beiläufig
einen Keks auf,
so einen, der nur echt
mit 52 Zähnen ist,
und trottet davon.

Vorbei an der Warenausgabe
des Elektronikmarktes,
der für online Bestelltes
nach wie vor geöffnet hat.

Ein fülliges erwachsenes
Mädchen schmunzelt,
in ihr Comicbuch versunken,
beinahe weinend vor Glück.

Webcamgirls schauen in Webcams,
Betrachter schauen auf Bildschirme.

In den virtuellen Stripclubs,
sind alle von Anfang an schon nackt.

Gemeinsam schmeißen die Betrachter
Tips in einen Pot,
und crowdfunden sich sexuelle Aktionen.

Die Girls sitzen
in vermutlich gefakten Wohnzimmern
und werden von
unsichtbaren Betrachtern betrachtet,
womöglich aus echter Einsamkeit heraus.

Zwei Kinder rennen auf dem Marktplatz
mit einer Seifenblasen-Pistole umher,
schießen Seifenblasen in die Luft
und lachen.

Ein Straßenmusiker
hält den Vereinzelten
seine Gitarre entgegen
und schlägt auf sie ein.

Ein Fahrradfahrer fährt
einen kleinen Schlenker
und scheucht
einen Taubenschwarm auf.

Am Hauptbahnhof
wird ins Leere
gebettelt.

Die Sonne scheint.
Die Knospen treiben aus.

Auf dem Wochenmarkt
schreit der Spargel.

Der Nachschub an Spargelstechern
sitzt da bereits im Flugzeug.

Was wird sich das Volk ausdenken,
wenn die Gladiatorenkämpfe
in den Arenen
weiterhin ausbleiben?

Orangene Fahrräder
bringen Essen
an Wohnungstüren.

Orangene Lastkraftwagen
holen Müll
von Haustüren ab.

 

Am Bahnhof
wird von Sicherheitsleuten
des Drogeriemarktes
ein herrenloser Rucksack
ausgemacht.

Die Angst vor dem Virus
weicht der vor dem Terrorismus,
weicht der vor dem Virus.

Es werden wieder
Körbe desinfiziert
und der Rucksack
in Ruhe gelassen.

Vor einem Altenheim
steht eine Pflegerin,
rauchend,
in Gummihandschuhen,
mit ihrer Kollegin,
 rauchend,
in Gummihandschuhen,
im Pausengespräch:

1500 Euro?

Ich glaub‘ das erst,
wenn ich es auf meinem Konto sehe.

Dass wir denen
auf einmal so wichtig sind?

Gegenüber schläft ein Mann
unter einer Bank
einer Bushaltestelle.

 

Die Fastfoodketten
bleiben zum Mitnehmen geöffnet
und halten das System am Laufen.

Der Security-Mann
vom Discounter
am Hauptbahnhof,
dessen primäre Aufgabe
es bisher immer war,
die leeren Körbe
vom Ausgang wieder
zum Eingang zu tragen,
kommt fast nicht mehr
mit Einlassbeschränkungen
und Wagendesinfektionen
hinterher.

Fast anerkennend
sind jetzt die Blicke,
die ihm entgegenschlagen.

Den Zoos bleiben
die Arschlöcher fern.

Die in den Chefetagen
denken über
Notschlachtungen nach.

Die,
die Masken tragen,
beäugen die,
die keine Maske tragen.

Die,
die keine Masken tragen,
beäugen die,
die Masken tragen.

Alle
drehen sich um
nach dem,
der hustet.

Der,
der hustet,
versucht
zu verschwinden.

Frauen
halten die Welt am Laufen,
während Männer ihr Beine machen.

Eine Omi
trägt freudestrahlend
einen Blumenstrauß nach Hause.

Der Kapitalismus ist erst kurz traurig,
dass die Einkaufszentren geschlossen sind,
dreht sich dann aber doch noch einmal um,
auch weil jeder Tag wie ein Sonntag ist,
und schlummert selig wieder ein:

Am Ende werden
die Reichen reicher
und die Armen
ein bisschen ärmer sein.

Die Revolution,
daneben liegend,
fasst sich ein Herz,
und schlägt dem Kapitalismus
seine Fresse ein,
zieht ihren Morgenmantel an,
geht ins Bad und sagt:

Der war schon tot.

Zwei Omas sitzen
auf einer Bank in der Sonne
und füttern die Tauben.

Die eine summt die Melodie
von Taubenvergiften im Park.

Wer stirbt zuerst?

Die Sonne scheint.

Die Einkaufszentren
stehen dumm rum.
Die Rolltreppen
laufen sich tot.

Die Schaufensterpuppen
langweilen sich.
Wenn keiner mehr kauft.
Wird keiner mehr glücklich.
Die Schaufensterpuppen
sorgen sich um ihre Jobs.

Der Sicherheitsmann
dreht seine Runden
und passt auf,
dass keine ausbricht
aus den Aquarien.

Er lässt seinen
imaginären Schlagstock
durch die nicht vorhandenen
Gitterstäbe klackern.

Und selbst wenn er
einen Schlagstock hätte,
würde, wenn überhaupt,
nur ein leises Quietschen
von Gummi auf Glas zu hören sein.

Ein paar Kids
fahren auf ihren Skateboards
dem Weltuntergang entgegen.

Am Viktualienmarkt
stehen die Trinker wieder
um ihren plätschernden Brunnen
und lassen sich,
Armlängen voneinander entfernt,
volllaufen.

Aufgrund des Abstandes
und des Lärms des Brunnens
müssen sie schreien.

Feuerwerke aus Bierspucke
und betrunkenen Worten
wechseln die Seiten.

Das Münchner Bahnhofsviertel ist leer.
Es fehlend die Touristen,
die Spielenden,
die Sexsuchenden
und die diesen Sex Verkaufenden.

Die erste Strip-Bar mit Kabinen
und Monitoren
und Taschentücher-Spendern
wird ausverkauft.

In den Luxuspassagen quillt wieder
der Mehrwert aus den Zurückgekehrten.

Vier Hilfspolizisten diskutieren
mit einem Betrunkenen
das Alkoholverbot um den Hauptbahnhof.

Der Betrunkene nimmt es mit allen auf,
sein Bußgeld hat er schon in der Tasche.
Sein viertes Bußgeld.

„Solche Probleme habe
ich in New York nie gehabt.“

Zwei muskulöse Männer,
auf Arabisch halb schreiend
ins Gespräch vertieft,
nähern sich einem Obdachlosen,
der in einer Ecke kauert,
hilflos in seinen Schlafsack gewickelt,
und stecken ihm
ein paar bunte Scheine zu.

Ein 23-Jähriger
und eine 18-Jährige
suchen ein Spielkasino ab 18.

Sie schwanger.
Er in einer Notlage.

Er hat noch zwei Euro.
Also acht Euro,
aber sechs Euro
braucht er für Zigaretten.

Sie raucht ja nicht.
Aber er ja.

Er habe schon mal
aus zwei Euro 238 Euro gemacht.
Und einmal
aus zwei Euro 302 Euro.

Eigentlich sind sie aus Augsburg
und morgen wollen sie
die Eltern von ihr
besuchen.

Er macht das immer
in einer Notlage so,
wie jetzt.

Weil sein Konto gesperrt ist,
weil er diesen Betrug
an der Backe hat,
weil ihn eine Freundin
angezeigt hat,
weil sie einen Controller
von ihm wollte,
den er aber über
einen Kumpel besorgt hat.

Ein Kasino ab 18
findet sich nicht.

Sie entfernen sich
und biegen um eine Ecke.

Auf der Theresienwiese
demonstrieren sie für Grundrechte,
und fühlen sich eigentlich
nur um ihre Spaß-Freiheit betrogen.

Für Freiheit.
Gegen Impfen.

Für die Natürlichkeit des Todes,
fordern sie eine natürliche Auslese.

Manche stellen getarnte Fragen.

Zum Virus hinzu,
ausgenießt in Ellenbogenbeugen,
gesellt sich hinter vorgehaltener Hand
der Judenhass.

So eine
Grundrechte-Demo
ist auf den ersten Blick
nicht von einer
gegen Ausländer
zu unterscheiden.

„Wir haben keinen
eigenen Willen mehr,
wir sind gesteuert“,
erklärt einer in Lederhose
einem ohne Obdach
am Straßenrand,
der wiederum
währenddessen
sein Brötchen
mit ein paar Tauben teilt.

Einen Fetzen für ihn.
Einen für die Asphaltgrauen.

Peter
vom Leipziger Hauptbahnhof
hat seit Neustem
einen schluffigeren Pullover an als sonst,
pafft an seiner Zigarette,
ohne sie mit der Hand
aus dem Mund
zu nehmen.

In der einen Hand
einen Kaffee,
in der anderen
den Beutel mit Pfandflaschen.

Sonst ist er hier immer
mit seiner vergreisten
Frau Mama unterwegs gewesen.

Am Eingang
des Einkaufszentrums
steht einer von der Demo
gegen Maulkorb vom Vortag
am Einlass
und passt darauf auf,
dass alle
ihren Mundschutz
tragen.

Es riecht nach Urin.
In Zeitlupe bewegt sich
ein Mann in zerfetzter Kleidung
zum Ausgang,
eskortiert
von zwei Sicherheitsmännern.

In speziellen Bereichen
wird Eis geschleckt.

Peter trägt
Sonnenbrille und Lederjacke.

Ein kleines Mädchen
füttert Tauben mit Pizza.

Drei Männer
stehen an einer Haltestelle.

Im Dreieck.
In Fünf-Meter-Abständen zueinander.

Tun so,
als würden sie nur
auf die Straßenbahn warten.

Die Sonne scheint.
Der Himmel ist blau.
Die Straßenbahn kommt.

Die drei Männer
steigen ein.

Als wäre
nix gewesen.

Bisher ist die Welt nicht untergegangen.
Ich gehe von einer Verspätung aus.

Ich schaue aus dem Fenster:
Himmel blau.
Sonne scheint.
Fast kein Wind.

Ich bin vorbereitet.
Zwei Packungen Müsli.
Der Weltuntergang
kann kommen.

Die Gegenstände
in meiner Wohnung
machen sich über mich lustig.
Na, das wollen wir mal sehen,
wer hier zuletzt lacht.
Lächerlicher
Salzstreuer.
Arschloch
Kaffeemaschine.

Ich beginne
mit meiner Steuererklärung.

Welt dreht sich
immer noch.

Steuererklärung langeweilt mich.
Ich suche mir was zum Spielen.

Die Sonne
geht unter.

Die Sonne
geht auf.

Die Müllabfuhr
kommt.

Weltuntergang:
bisher nicht eingetreten.

Mein Nachbar ruft an.
Von der Rückreise aus China.
Fragt, ob ich seine Heizung
schon einmal hochdrehen kann.

Im Supermarkt werden
die Regale aufgefüllt.

 

Texte und Zeichnungen
von Sebastian Jung
Lektorat: Friederike Weidner

im Rahmen der Ausstellung
Tell me about yesterday tomorrow

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History is not the Past

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